Ebern, Dezember 1813. In der kleinen Amtsstadt Ebern, eingebettet in die winterliche Stille des Frankenlandes, kehrt ein junger Dichter zu seinen Wurzeln zurück. Friedrich Rückert, 25 Jahre alt, verbringt das Weihnachtsfest bei seinen Eltern. Es ist eine Zeit der Besinnung, aber auch der Kreativität. Denn in dieser besonderen Dezembernacht schafft Rückert etwas, das nicht nur seine Familie, sondern Generationen von Kindern begeistern wird: seine ersten Kindermärchen.
Die Situation könnte nicht idyllischer sein. In der warmen Stube seiner Eltern sitzt Rückert, liebevoll „Fritz“ genannt, zusammen mit seiner kleinen Schwester Maria, die von allen „Mariechen“ gerufen wird. Das dreijährige Mädchen ist ein Wirbelwind der Neugier, stets auf der Suche nach neuen Geschichten. Doch was soll er seiner kleinen Schwester schenken, das wirklich von Herzen kommt? Rückert entscheidet sich, selbst tätig zu werden: Er setzt sich in einer klaren Dezembernacht an den Tisch und beginnt zu schreiben.
Es entstehen Märchen, die von Bäumchen, Spielmännern und kleinen Wundern erzählen. Märchen, die so voller Fantasie und kindlicher Reinheit stecken, dass sie Mariechen in helle Freude versetzen. Besonders berührt ist das Mädchen von dem Büblein, das in einem Märchen sagt:
„Ich kann nicht mehr;
Wenn nur was käme
Und mich mitnähme!“
Mit leuchtenden Augen lauscht sie, klatscht in die Hände und kann gar nicht genug bekommen. Ihr Jubel und ihre vielen Fragen bringen Leben in die Stube, während die winterliche Kälte draußen vergessen ist. Nie zuvor hatten die Eltern eine so warme und innige Weihnachtszeit erlebt. Der Vater, tief gerührt, drückt seinem Sohn schweigend die Hand, während eine Träne über seine Wange läuft. Die Mutter, voller Stolz, küsst ihren „großen Fritz“ und sagt: „So was Herziges hab’ ich noch nicht gelesen. Du hast Dich dadurch um Deutschlands Jugend verdient gemacht!“
Friedrich Rückert jedoch, bescheiden wie er ist, wiegelt die Anerkennung seiner Eltern ab. „Es ist doch nur ein Scherz“, erklärt er, doch aus seinen Augen spricht die Freude über den Zuspruch seines Vaters. Diese neue Anerkennung ist ein entscheidender Moment: Der Vater, der zuvor vielleicht an der Ernsthaftigkeit des dichterischen Wegs seines Sohnes gezweifelt hatte, gewinnt an diesem Abend den Glauben an dessen Zukunft zurück.
Die Begeisterung bleibt nicht auf die Familie beschränkt. Als Rückert seine Märchen an Ahl in Coburg sendet, werden sie bald gedruckt und finden schnell Verbreitung. Die Geschichten erscheinen in einem kleinen Heft, gedruckt auf einfachem grauen Löschpapier. Kinder reißen sich um das Büchlein, und selbst Erwachsene lesen die Märchen mit großem Vergnügen. Es wird ein literarischer Erfolg, der Rückerts Ruf als Dichter festigt.
Rückerts Kindermärchen bezaubern nicht nur durch ihre Fantasie, sondern auch durch ihre tiefe Verbundenheit mit der kindlichen Seele. Geschichten wie „Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt“ oder „Vom Bäumlein, das spazieren ging“ entführen die Leser in eine Welt, in der Bäume, Mäuse, Tische und Bänke tanzen und selbst Schlösser Kopf stehen. Besonders Mariechen gerät in freudige Aufregung, als sie diese lebendigen Bilder vor ihrem inneren Auge sieht.
Die Märchen sind mehr als bloße Unterhaltung – sie sind ein Triumph des Schönen, ein Zeugnis für die Reinheit und Naivität der Kindheit, die Rückert in seinem Herzen bewahrt. Sie zeigen, wie tief der Dichter das Wesen des Kindes versteht, und wie sehr er die Fantasie und das Staunen als wertvolle Güter des Menschseins erkennt.
Auch heute, mehr als zwei Jahrhunderte später, sind Rückerts Kindermärchen lebendig. Sie leben fort in Kinderbüchern und erinnern uns daran, wie wichtig es ist, die Magie der Kindheit zu bewahren. Friedrich Rückert hat sich unsterblich gemacht – ein Geschenk, das nicht nur zu Weihnachten 1813 seine Wirkung entfaltete, sondern auch heute noch Kinder und Erwachsene gleichermaßen begeistert.
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