
Es gibt Traditionen, die sich so tief in die kommunale Kultur eingegraben haben, dass sie fast schon wie ein Naturgesetz wirken. In Bayern etwa richtet sich die geordnete Welt der Gemeindepolitik nicht nur nach den Jahreszeiten, sondern auch nach einer Art bürgerlichem Pflichttermin: der Bürgerversammlung. Mindestens einmal jährlich muss sie stattfinden, so steht es in Art. 18 der Gemeindeordnung des Freistaats, und was dort verankert ist, wird seit Jahrzehnten ebenso zuverlässig umgesetzt wie der jährliche Frühjahrsputz in den Garagen.
Auch in Ebern folgt man diesem Ritual, und so öffnet am 8.12.25 die ehrwürdige Rathaushalle ihre Türen – um genau 19:00 Uhr, pünktlich wie ein kommunalpolitisches Uhrwerk. Der Ort selbst hätte Geschichten zu erzählen, wenn seine Wände sprechen könnten: Einst als Feuerwehrgerätehaus genutzt, jahrzehntelang Heimstatt von Schläuchen, Helmen und Einsatzstiefeln, dient die Halle heute als Bühne für Hobbykünstlermärkte, Kulturabende und eben jenem demokratischen Pflichttermin, bei dem die Bürgerinnen und Bürger zu Wort kommen dürfen.
Die Versammlung ist weder eine verlängerte Pressekonferenz des Rathauses noch ein höflich moderierter Vortrag des Bürgermeisters mit anschließendem Winken und Verabschieden. Sie ist gesetzlich geregelter Bürgerdialog – und das bedeutet: Fragen stellen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht, und zwar ganz ohne Voranmeldung.
Von Mitwirkung und Mitreden
Wer an jenem Abend die Rathaushalle besucht, betritt keinen Zuschauerraum, sondern ein Forum. Die Gemeindeordnung macht das unmissverständlich klar: Die Bürgerversammlung ist ein Mitberatungsrecht – nicht zu verwechseln mit Mitbestimmung, aber deutlich mehr als ein „Wir hören mal zu und gehen wieder heim“.
Mitberaten heißt, sich einzubringen, zu erörtern, zu hinterfragen und zu verstehen. Und erörtern wiederum bedeutet, das sprichwörtliche Licht in jede Ecke eines Themas scheinen zu lassen – das Für und Wider, das Vielleicht und das Weiß-noch-nicht. Wer in Ebern also erwartet, dass ein Bürgermeister eine halbstündige Präsentation hält, ein paar Grafiken zeigt und anschließend die Lichter ausgehen, wird überrascht sein. Denn dort beginnt die Versammlung erst.
Das Rederecht liegt bei den Bürgerinnen und Bürgern. Gemeindemitglied zu sein, ist dabei die Eintrittskarte. Wer in Ebern wohnt und auch als Gemeindebürger/in gilt, darf sich melden, darf fragen, darf sich zur Sache äußern. Und zwar spontan – ein Recht, das mancherorts als revolutionär empfunden werden könnte, wäre es nicht seit Jahrzehnten Teil der bayerischen Kommunalordnung.
Natürlich, Gäste dürfen zuhören. Und manchmal, wenn die Stimmung es will, dürfen auch sie reden – aber nur, wenn die Bürgerversammlung selbst darüber abstimmt. Diese feine Grenze ist gesetzlich erstaunlich streng gezogen: Nicht einmal der Bürgermeister darf Auswärtige ohne Beschluss zu Wort kommen lassen.
Die Rolle des Bürgermeisters
Die Bürgerversammlung wird vom Bürgermeister einberufen und geleitet. In Ebern also von der Person, die das Rathaus repräsentiert und die Tagesordnungspunkte ordnet. Doch auch wenn auf dem Tisch Mikrofon und Glocke liegen: Eine Bürgerversammlung ist keine Solonummer. Der Bürgermeister führt formell durch den Abend, sorgt dafür, dass Fragen gestellt und beantwortet werden können, achtet darauf, dass Anträge korrekt formuliert werden – aber er ist zugleich zur Neutralität verpflichtet.
Formulierungshilfe ja, Einflussnahme nein. Eine Versammlungsleitung muss dafür sorgen, dass die Diskussionen sachlich bleiben, dass nicht der eine Teilnehmer fünf Minuten über die Schlaglöcher im Nachbarort lamentiert und die nächste Rednerin plötzlich über den weltweiten Verkehrskollaps philosophieren möchte. Die Themen sollen dort bleiben, wo sie hingehören: bei den Angelegenheiten der Gemeinde.
Viel Interpretationsspielraum gibt es dabei nicht. Gemeindliche Angelegenheiten, das klingt beschaulich, doch der Begriff umfasst einiges: von Bauvorhaben über Verkehrsregelungen bis zu Fragen, die auf den ersten Blick überregional wirken, aber unmittelbare Auswirkungen auf die Stadt haben. Ebern darf also auch reden, wenn Themen anklopfen, die nicht direkt in Gemeindebesitz stehen, aber deutlich spürbar werden.
Abstimmbare Empfehlungen an den Gemeinderat
Eine der am wenigsten bekannten, aber bedeutsamsten Funktionen der Bürgerversammlung ist das Empfehlungsrecht. Nicht nur Beratungen finden statt – die Versammlung darf auch beschließen.
Mit Mehrheit, ohne komplizierte Protokollkaskaden, direkt vor Ort. Und diese Beschlüsse sind nicht bloß nette Hinweise, die im Rathaus danach auf einem Stapel freundlicher Bürgerpost enden. Die Gemeindeordnung verpflichtet den Stadtrat: Innerhalb von drei Monaten müssen alle Empfehlungen behandelt werden. Nicht auf die lange Bank schieben, nicht ignorieren – behandeln.
Das bedeutet, dass jede Empfehlung, über die an diesem 8.12.25 in der Rathaushalle abgestimmt wird, ihren Weg auf den Sitzungstisch findet. Ob es um den Zustand der Gehwege geht, einen Zebrastreifen, die Pflege städtischer Grünflächen oder eine Bitte an das Rathaus, bestimmte Planungen transparenter zu machen – der Gemeinderat muss sich damit befassen.
Wie er entscheidet, bleibt natürlich ihm überlassen, denn Mitberatung ersetzt nicht die kommunale Beschlussfassung. Aber die Bürgerversammlung ist ein demokratischer Hebel, der niemandem verborgen bleiben sollte.
Wenn fünf Prozent der Bürger/innen eine Versammlung verlangen
Mindestens einmal jährlich muss die Bürgerversammlung von der Stadt Ebern einberufen werden. Doch die Bürger/innen haben ein weiteres Werkzeug in der Hand: den Antrag auf Einberufung einer Bürgerversammlung.
Wenn fünf Prozent der Gemeindemitglieder – was in Ebern nach der Einwohnerzahl durchaus eine spürbare Zahl ist – gemeinsam eine Versammlung mit konkreter Tagesordnung beantragen, muss diese stattfinden. Einmal im Jahr ist ein solcher Antrag möglich.
Die Gemeindeordnung gibt den Bürgerinnen und Bürgern damit ein Mittel, das nicht nur das Zuhören ermöglicht, sondern auch das Agenda-Setting. Sie dürfen also nicht nur auf das reagieren, was der Bürgermeister berichtet – sie können selbst bestimmen, worüber gesprochen wird, wenn genügend Unterstützung vorhanden ist.
Von der Kunst, eine Versammlung gut zu führen: Dauer, Offenheit, Protokoll
Eine Bürgerversammlung ist weder Sprint noch Marathon. Vier Stunden gelten als Obergrenze der Zumutbarkeit, und das aus gutem Grund. Nach drei Stunden kommunalpolitischer Detailfragen beginnt selbst dem engagiertesten Bürger der Kopf zu schwirren, und nach vier Stunden wäre jeder demokratische Restwille vermutlich erschöpft.
Eine gute Versammlung bleibt ergebnisoffen – nichts ist vorbestimmt, Fragen dürfen überraschend sein, Empfehlungen unerwartet, Diskussionen lebendig. Damit nach dem Abend aber nicht nur Erinnerungen bleiben, sondern auch Ordnung und Transparenz, sollte gelten: Es wird Protokoll geführt, und dieses sollte veröffentlicht werden. Nur so können jene, die nicht teilnehmen konnten, nachvollziehen, was beraten und beschlossen wurde.
Was besprochen werden kann, ist vielfältig. Was beschlossen werden kann, ebenfalls. Was am Ende als Empfehlung auf dem Weg zum Stadtrat landet, hängt allein von der Versammlung ab.
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