Man hätte meinen können, in Ebern werde man im Jahr 2025 über die eigene Geschichte stolpern. Schließlich hätte ein rundes Jubiläum angestanden, nachdem bereits das 125-Jährige unbemerkt vorübergegangen war. Es geht um einen dieser nostalgischen Anlässe: 130 Jahre Eisenbahnanschluss! Doch das Städtchen schwieg. Keine Feier, keine Festschrift, nicht einmal eine schlichte Erinnerungstafel in der Nähe des alten Bahnhofs – einst der Stolz der neuen Baunach- und Weisachgrundbahn. Der Zug fährt heutzutage zwar so häufig wie noch nie nach Ebern, aber die Möglichkeit, ein Jubiläum zu feiern, wäre doch dagewesen. Man hat es schlicht verpasst – und das gleich mit der ganzen Gelassenheit, die man im Eberner Land gerne als Tugend verkauft.
Dabei verdiente die Strecke eine kleine Verbeugung. Am 24.10.1895 rollten erstmals offiziell Waggons von Breitengüßbach nach Ebern, und schon ein Jahr später, am 26.10.1896, war auch die Verlängerung nach Maroldsweisach fertig. Das versprach Ausflüglern der wilhelminischen Epoche neue Freiheiten – und dem „Unterhaltungsblatt des Bamberger Tagblatts“ [➚] Stoff für jenen ebenso enthusiastischen wie detailverliebten Artikel, der am Sonntag, dem 26.7.1896 erschien. Unter dem heiteren Titel „Auf Schusters Rappen durchs Bamberger Land“ wollte man offenbar die wackeren Sonntagswanderer zur neuen Bahnlinie locken. Denn Reisen, das galt schon damals, war eine Frage des guten Timings – und das gelang nun besser denn je.
Der historische Text, der heute eher wie eine Mischung aus Reiseprospekt und schwärmerischem Landschaftsloblied wirkt, hatte ein Ziel: Die Menschen sollten Lust bekommen, ihre Wohnzimmersessel zu verlassen und sich über Bamberg, Breitengüßbach und Ebern in Richtung Altenstein und Lichtenstein aufzumachen. Die Gegend, damals wie heute voller sanfter Hügel, Kirschbäume, Nussgärten und Burgruinen, galt als verheißungsvoller Ort für jene, die Naturerlebnisse zwar suchten, aber doch bitte mit einer ordentlichen Portion Komfort. Das Wort „Partie“, das der Autor verwendete, meinte einfach den Ausflug – wobei damals selbst harmlose Freizeitaktivitäten noch klangen wie halbe Feldzüge.
Schon der Beginn des Textes macht deutlich, wie modern die Bahnstrecke damals wirkte. Die Fahrt von Bamberg nach Ebern sollte, so hieß es, völlig unbeschwert beginnen – wenn da nicht die Kleinigkeit gewesen wäre, dass der Anschluss in Breitengüßbach etwas unglücklich zwischen Frühstück und Sommerhitze lag. Der erste Zug der neuen Sekundärbahn fuhr nämlich so spät ab, dass ein Teil des geplanten Fußmarsches in die hochsommerliche Mittagssonne rutschte. Heute würde man darüber wohl eine Petition aufsetzen, doch 1896 empfahl man den Leserinnen und Lesern schlicht, sich aufs Fahrrad zu setzen. Die Straßen seien „ausgezeichnet“, hieß es – man spürt förmlich, wie sich der Autor, von moderner Technik geradezu beschwingt, auf seine idealisierte Landlusttour freute.
Dass der Text trotz seiner Euphorie auch gewisse Prioritäten setzte, zeigt sich besonders an einem bemerkenswerten Urteil: Der Abstecher zur Ruine Rotenhan lohne sich nicht. Für das 19. Jahrhundert war das vielleicht eine legitime Einschätzung – die Ruine war damals wohl weniger attraktiv erschlossen. Heute allerdings gilt sie als eine der ungewöhnlichsten Burganlagen Bayerns, eine echte Felsburg aus Sandstein, in den Fels hineingebaut und zum Geotop geadelt. Dass der historisch so gewissenhafte Autor diesen markanten Ort ignorierte, wirkt aus heutiger Sicht fast rührend. Vielleicht lag es auch daran, dass er geradewegs zum Schlosspark Eyrichshof wollte, der damals – ein weiteres Kuriosum – frei zugänglich gewesen sein soll. Heute steht dort ein großes Schild, und die Zugangsfrage ist mit höflicher Bestimmtheit beantwortet: geschlossen.
Erst recht erstaunlich ist, wie nebensächlich im damaligen Text der Begriff „Haßberge“ daherkommt. In der Region selbst schien er Ende des 19. Jahrhunderts kaum eine Rolle gespielt zu haben. Der Autor erwähnte ihn nur in einer Randbemerkung, gewissermaßen als geographischen Hinweis: Von Altenstein aus könne man im Rundblick gegen Nordwest die Haßberge sehen. Die Menschen jener Zeit dachten offenbar eher in Tälern, Märkten und Rittergütern als in den überdrehten Begriffen moderner Tourismusverbände. Erst die Gebietsreform von 1972 hat unserer Region den Namen Haßberge ziemlich entschlossen – manche sagen: recht penetrant – übergestülpt.
Aber zurück in die Szenerie des Jahres 1896 – eine Kulisse aus quirligen Dorfstraßen, frisch elektrifizierten Mühlen und beeindruckend höflichen Dienstboten, die vor den Fremden auf dem Rotenhan’schen Gut den Hut zogen, als seien sie soeben persönlich vom Kaiser bestellt worden. Der Artikel nimmt seine Leser mit auf eine minutiöse Wegbeschreibung, wie sie heute vermutlich nur Wanderführer in besonders emsigen Momenten verfassen würden. Nach der Ankunft in Ebern, das man als „freundliches Städtchen“ mit tausendjähriger Geschichte beschreibt, ging es über die Papiermühle und den damals öffentlich zugänglichen Eyrichshöfer Park weiter Richtung Specke, einem Gasthaus, das sich als idyllischer Zwischenstopp mit Kegelbahn und schattigem Garten empfahl. Dort gab es frisches Rotenhan’sches Bier – eine Information, die man zweifellos geschmackvoll in Szene setzte.
Von dort an führte der Weg nach Fischbach, dessen altes Schloss und Ökonomiehof man freundlich erwähnte, bevor der Höhenzug auftauchte, auf dem die Lichtenstein thronte – eine Ruine, die sich damals wie heute stolz über den Wipfeln zeigt. Der Autor beschreibt sie in nüchternem Ton, beinahe beiläufig. Doch wer selbst schon auf der Lichtung gestanden hat, weiß, dass dieser Ort alles andere als beiläufig ist: still, verwunschen, ein wenig melancholisch. Damals gehörte die Ruine einer Linie der Rotenhan-Familie, heute gilt sie als eines der charakteristischen Ziele der Wanderwege rund um Pfarrweisach.
Doch das unbestrittene Highlight des historischen Textes ist Altenstein, 464 Meter über dem Meer, ein Ort, der sich schon damals durch auffallenden Nussbaum- und Kirschenanbau hervortat. Am 26.7.1896, also genau an jenem Tag, an dem der Artikel erschien, feierte der Marktflecken ein Kirchenfest. Noch bevor die Glocken läuteten, tippte der Autor emsig an seinem Ausflugsbericht – ein Bild, das man sich heute nur zu gerne ausmalt.
Mit sichtbarer Freude widmete er mehrere Spalten der damaligen Geschichte der Ruine Altenstein, einem monumentalen Ort, dessen zerstörte Mauern heute noch dramatisch in den Himmel ragen. Er berichtete von den Herren von Stein, die Macht, Einfluss und gelegentlich auch ein leicht überzüchtetes Selbstbewusstsein besessen haben sollen. Die Sage um den Würzburger Bischof Eyring, der angeblich elf der zwölf Altensteiner Brüder heimtückisch ermordete, erzählte er mit der Mischung aus Skepsis und Hingabe, die man sonst von Großvätern kennt, die beim Abendbrot mit ernster Miene „Aber so hat man‘s sich erzählt!“ hinzufügen.
Besonders beeindruckend, so der Bericht, sei die Aussicht von der Altensteiner Ruine gewesen. Man habe den Jura erkennen können, die Rhön mit Kreuzberg, die Thüringer Wälder, die Gleichen und die Coburger Veste. Der Blick sei weit und wohltuend gewesen. Und – eine kleine, heute charmante Randnotiz – man habe sogar die elektrische Beleuchtung des Bahnhofs Bamberg aus der Ferne funkeln sehen. Naja. Das wäre dann eine Sensation gewesen, ein Stück Zukunft im nächtlichen Panorama.
Der Rückweg des historischen Artikels beschreibt schließlich eine Variante über die Waldhöhe nach Lichtenstein, gut markiert durch den Altensteiner Verein, der sich damals hingebungsvoll um die Pflege und Freilegung der Burgruine kümmerte. Die Vereinsarbeit wurde später eingestellt, als die Familie Rotenhan die Anlage als Ganzes erwarb. Seither wechselten Verantwortlichkeiten und Restaurierungsansätze mehrfach, doch die Atmosphäre blieb. Rau, mächtig, schweigsam – Altenstein ist eine Ruine, die keiner Werbebroschüre bedarf.
Der Text von 1896 endet in freundlicher Gelassenheit mit einer Reihe möglicher Alternativrouten. Man könnte, so hieß es, auch nach Heldburg wandern oder gar bis Coburg. Außerdem gebe es die Möglichkeit, nach Untermerzbach, Gereuth oder gar bis zur Bahnstation Manndorf zurückzugehen, auch wenn dies wohl etwas länger dauern könne. Man spürt den Reiseoptimismus eines Zeitalters, das die neue Mobilität noch als Wunder betrachtete.
Und so liegt es nun an uns, 130 Jahre später, uns neben dem historischen Text zu fragen, wie es passieren konnte, dass in Ebern niemand ein Jubiläum feierte. Vielleicht liegt es an jener stillen Art des Landstrichs, sich nicht unnötig aufzudrängen. Oder daran, dass moderne Pflichten uns das nostalgische Schwelgen einfach abgewöhnt haben.
Doch wer heute die Wege zwischen Bamberg, Ebern, Altenstein und Lichtenstein abwandert, bewegt sich unweigerlich auch durch die Schatten dieses alten Artikels. Man geht die selben Wege, sieht ähnliche Linien im Landschaftsbild und spürt vielleicht eine Ahnung der Begeisterung, die den Autor von 1896 beseelte. Und vielleicht merkt man unterwegs auch, dass es manchmal mehr braucht als eine verpasste Feier, um ein Stück Geschichte lebendig zu halten: nämlich jemanden, der ihre Geschichten erzählt. Immer wieder neu. Immer wieder anders. Und gerne auch mit ein wenig Augenzwinkern.

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